Eure Fragen (1) #Zwangserkrankung

Hallo zusammen,

los geht es mit der Frage von Maskenspiel:

„Mich würde interessieren, was dir bisher am meisten genutzt hat und ob du schon mal ein pflanzliches Medikament ausprobiert hast?“

Oh, dazu könnte ich jetzt viel schreiben 😉 Ich versuche, den Schreibdrang zu zügeln und im Folgenden die Punkte aufzuzählen, die mir am meisten im Umgang mit meiner Zwangserkrankung geholfen haben. (Die Reihenfolge hat keine Bedeutung).

  • Mir Wissen über die Erkrankung aneignen

Damit gemeint ist alles, was ich im Laufe der Jahre von meinen Behandlern und Mitpatienten gelernt habe, mir durch die Beschäftigung mit Selbsthilfebüchern und Fachliteratur angelesen habe usw.

Selbst die angsteinflössensten Zwangsgedanken verlieren meiner Erfahrung nach nämlich einen Teil ihres Schreckens, wenn man sich klar macht, was sie sind: das Symptom einer Erkrankung, nicht mehr und nicht weniger. Eine Zwangsstörung ist eine Krankheit, für die man als Betroffener genau so wenig etwas kann wie z.B. für Asthma oder Grippe!

Zu wissen, wie diese Erkrankung „funktioniert“, was typische Symptome sind und mögliche komorbide Erkrankungen, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt und vieles mehr hilft mir, im Alltag besser zurecht zu kommen und bestimmte Gefühle und Gedanken einordnen zu können. Bei Gesprächen mit Ärzten und Therapeuten kann ich dadurch außerdem zielgerichteter nachfragen und vor allem auch darauf achten, dass ich eine gute, adäquate Behandlung bekomme.

  • Austausch mit Leidensgenossen

Als Zwangserkrankte hatte ich im Rahmen meiner (teil-)statiönaren Behandlung manchmal das Gefühl, ein Kuriosum zu sein. Da waren viele Mitpatienten mit Depressionen oder einer Angsterkrankung, aber andere Zwängler? Wo steckten die alle, wo doch schätzungsweise 2-3 Prozent der Bevölkerung betroffen sein sollen?

Um so mehr freu(t)e ich mich, wenn ich dann doch mal auf Leidensgenossen treffe. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Mitpatienten mit anderen Diagnosen unfreundlich gewesen wären, oder kein Verständnis für mich gehabt hätten! Aber manche Symptome oder Erfahrungen können Nicht-Betroffene meiner Meinung nach nicht nachvollziehen, genauso, wie ich z.B. nicht weiß, wie sich eine Psychose anfühlt. Ein anderer Zwangserkrankter versteht mich dagegen meistens genau, wenn ich beispielsweise vom inneren Druck zum Ausüben einer Zwangshandlung spreche, egal, ob es bei ihm jetzt Waschzwänge sind und bei mir Ordungszwänge. Dieses Verständnis, das keine langen Erklärungen voraussetzt, tut manchmal einfach nur gut, gerade in Bezug auf Zwangsgedanken, für die die Scham zumindest bei mir höher ist als für viele andere Symptome.

  • Mir professionelle Hilfe holen. Wichtig: die Helfer sollten Erfahrungen mit Zwangserkrankungen haben!

Laut Studien vergehen im Schnitt um die 7 Jahre, bis Zwangserkrankte das erste Mal professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

In meinem Fall kommt die Statistik hin: Erste Zwangssymptome hatte ich mit 13, 14 Jahren, den ersten Facharztkontakt mit Diagnosestellung dann mit 20. Noch mal ein paar Jahre vergingen bis zur ersten stationären Behandlung, die zu meinem Glück auf Zwangserkrankungen zugeschnitten war. Danach begann dann meine ambulante Psychotherapie, die bis jetzt andauert.

Meine Empfehlung nach der ganzen Chose: Wenn ihr den Verdacht habt, unter einer Zwangsstörung zu leiden, sucht euch möglichst zeitnah Hilfe! Von allein wird die Krankheit leider in der Regel nicht verschwinden, stattdessen steigt das Risiko für eine Chronifizierung. Denn je länger man damit wartet, etwas zu unternehmen, um so mehr hat der Zwang Zeit, sich festzusetzen und sich auf immer mehr Lebensbereiche auszubreiten. Ich erinnere mich z.B., dass ich zu Beginn als Teenager nur ein bis zwei Zwänge hatte, einige Jahre später hingegen schon deutlich mehr. Nicht cool.

Ich finde es auch sehr wichtig, Therapeuten oder Ärzte zu haben, die Erfahrungen in der Behandlung von Zwangsstörungen aufweisen können. Bei Fachleuten, die diese Erfahrung nicht hatten, fehlte es meinem Eindruck nach manchmal an Verständnis für bestimmte Problematiken. Darum bin ich auch sehr froh und dankbar, mit meinem jetzigen Psychiater einen Arzt zu haben, der sich gut in der Materie auskennt und von dem ich mich immer ernst genommen, gut beraten und unterstützt fühle.

Zum Punkt „sich professionelle Hilfe holen“ zählt natürlich auch Therapie. Da ich dazu aber sehr viel schreiben könnte, möchte ich der Übersichtlichkeit halber lieber einen extra Post dafür aufmachen. Das passt dann auch zu der Frage von Ut 😊 In diesem Post werde ich euch dann von (zwangsspezifischen) Therapieansätzen erzählen, die mir geholfen haben, z.B. Expositionsübungen und Metakognitives Training (MKT).

  • Medikamente

Zu diesem Aspekt findet man viele verschiedene Meinungen und Erfahrungen unter Betroffenen. Ich möchte an dieser Stelle nur meine Erfahrungen schildern, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das gilt eigentlich für alle Punkte hier – aber ich dachte mir, ich betone es bei dem teils doch heiklen Thema Psychopharmaka noch mal lieber extra 😉

Ich nehme seit der Diagnosestellung ein Antidepressivum aus der Wirkstoffgruppe der SSRI. Zum einen als Rückfallprophylaxe wegen mehrerer schwerer depressiver Episoden in der Vergangenheit und dann eben wegen der Zwangs- und der Angststörung.

Vielleicht hilft es in diesem Zusammenhang zu wissen, dass ich mehr unter den Zwangsgedanken als unter den Zwangshandlungen leide und dass mehrere meiner Zwänge mit magischem Denken verbunden sind. Bei solchen Arten einer Zwangsstörung soll eine medikamentöse Behandlung laut Experten tendenziell hilfreicher sein als bei Zwangsstörungen, in denen Zwangshandlungen dominieren. Generell lässt sich aber festhalten, dass die Frage, ob Medikament ja/nein wirklich höchst individuell ist. Ich kenne z.B. auch einige Zwangserkrankte, die nie eine Medikation hatten oder solche, denen eine medikamentöse Behandlung nichts gebracht hat.

Ich habe inzwischen mehrere Umstellungen von einem SSRI auf ein anderes durch, auch einen Absetzversuch in Eigenregie gegen ärztlichen Rat *hust, war eine dumme Idee*

Meine Erfahrung: Medikamente helfen mir. Sie dämpfen die Intensität der Zwangsgedanken herunter auf ein Level, das besser auszuhalten ist für mich und mit dem ich, in der Kombination mit Therapie und Selbsthilfe, im Alltag – abgesehen von akuten Krisen – im Großen und Ganzen ganz gut zurecht komme. Ebenso dämpfen sie die Intensität meiner Depressions- und Angstsymptome. Mein Bedarfsmedikament (Promethazin) versuche ich, so wenig wie möglich einzusetzen.

Mit pflanzlichen Medikamenten habe ich, bis auf Rescuetropfen, die mir damals nichts gebracht haben, keine Erfahrung. Manchmal greife ich aber bei innerer Unruhe am späten Abend auf Schlaftees zurück, z.B. mit Lavendel.

  • Komorbide Erkrankungen erkennen und behandeln

Viele Betroffene leiden nicht „nur“ unter einer Zwangsstörung, sondern auch unter einer oder mehreren weiteren psychischen Erkrankungen. Es ist wichtig, dass diese erkannt und ebenfalls behandelt werden, denn ansonsten wird es schwer sein, den Gesamtzustand zu verbessern.

Ein Beispiel: Hat jemand neben einer Zwangserkrankung auch eine ausgeprägte Depression, macht es Sinn, zuerst oder zumindest vorrangig die Depression zu behandeln. Denn wer gerade in einer starken depressiven Episode steckt, wird kaum die Kraft oder Konzentration haben, sich anstrengenden Expositionsübungen gegen seine Zwänge zu stellen …

Bei mir ist es so, dass Depression, Ängste und Zwangsstörung sich gegenseitig verstärken können bzw. sich Symptome auch mal vermischen. Darum ist es wichtig für mich, dass in der Therapie nicht nur stur an der Zwangsstörung oder der Depression gearbeitet wird, sondern eben jede Baustelle ggf. Raum bekommt und ich Umgangsstrategien damit erlerne.

So, und damit schließe ich den ersten Beitrag der Reihe. Ich bedanke mich nochmals herzlich für eure Fragen! Im nächsten Post soll es dann wie gesagt spezifisch um die Therapie gehen .

11 Kommentare zu „Eure Fragen (1) #Zwangserkrankung

  1. Oh, das ist eine sehr ausführliche Antwort! Danke dafür. Lese ich es richtig heraus, dass die Medikamente schon sehr stark an der Verbesserung deiner Situation beteiligt waren? Ich nehme bisher keine SSRI und bin auch nicht scharf drauf, aber wenn die Zwänge wieder sehr stark werden, überlege ich doch, ob ich es versuchen sollte. LG!

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    1. Gern! 🙂
      Danke an dich für die Frage, das Reflektieren hat mir nämlich geholfen, mir noch mal über meine Ressourcen und Co. klar zu werden … Hoffe, es ist nicht zu lang(weilig) geworden!

      Sehr stark ist zu viel gesagt, was das AD angeht, denke ich, aber schon einen guten Teil. Ich hatte immer den Eindruck, die SSRIs nehmen meinen Zwangsgedanken die Intensität (nicht unbedingt die Häufigkeit). Wo Emotionen, die die Zwangsgedanken früher ohne Medi ausgelöst haben, stark waren, sind Angst, Schuldgefühle und Co. heute mit Medi gedämpfter. Genau so der Druck zu Zwangshandlungen.
      Ich finde es ganz schwer, da anderen Erkrankten etwas zu raten und traue mich da auch gar nicht, dir jetzt Empfehlungen dafür oder dagegen auszusprechen, weil es eben sooo individuell ist. In der Klinik habe ich Mitpatienten getroffen, bei denen ADs nichts in Sachen Zwänge gebracht haben ebenso wie Leute, bei denen es half.

      Liebe Grüße

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      1. Ach, keine Sorge, ich höre eh nur auf Ratschläge, die mir gefallen ;o) Und langweilig fand ich es gar nicht. Im Gegenteil, hab mich über die ausführliche Beantwortung meiner Frage gefreut! LG!

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  2. Danke für diesen Beitrag, ich finde ihn sehr interessant und hilfreich. Ich selber bin nicht betroffen, aber in meinem Bekanntenkreis gibt es jemanden mit einer Zwangserkrankung und ich versuche, ihn zu verstehen. Dein Beitrag hat wesentlich zu diesem Verständnis beigetragen.

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    1. Hallo Ut,
      es freut mich, wenn ich mit meinem Blog zu mehr Verständnis beitragen kann! Danke für dein Lob.
      Vielleicht triffst du als Peer ja noch den ein oder anderen Zwangserkrankten im Laufe der Zeit …

      Liebe Grüße von
      Nelia

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  3. Es ist toll,dass du das machst!
    Die Leute haben kaum Ahnung davon und dazu hätte ich mich selbst bis vor einem Jahr auch noch gezählt. Bis ich dann hinterrücks und hundsgemein von den Zwangsgedanken überfallen wurde.
    Sie sind bei mir nicht so ausgeprägt,waren kurzzeitig sehr aggressiv und dann harmloser. Da sind sie trotzdem noch und ich finde sie so unangenehm, dass ich gar nicht drüber sprechen will.
    Was mir sehr geholfen hat das zu verstehen ‚jeder Mensch hat diese Gedanken, nur verfliegt ein solcher Gedanke bei den meisten sofort wieder. Bei den Zwangsgedanken bleibt man darauf hängen. ‚
    Was mir noch gar nicht klar ist, ist die Funktion die das haben soll – worauf mich das vielleicht hinweist…
    Jedenfalls,liebe Nelia, unendlichen Dank für deinen Mut!!

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    1. Danke für die lieben Worte!
      Ja, das allgemeine Wissen über Zwangserkrankungen ist meinen Eindruck nach auch noch ausbaufähig. Vor allem, damit Menschen, die darunter leiden, ihre Erlebnisse einordnen können und sich dadurch dann rechtzeitig Hilfe suchen. Bei Depressionen hat das in den letzten Jahren ganz gut geklappt, finde ich ☺ Zwar gibt es da auch noch Vorurteile und Unwissenheit, aber schrittweise scheint in der Gesellschaft anzukommen, dass eine Depression eine ernsthafte Erkrankung ist und es Hilfsmöglichkeiten gibt. Das Gleiche wünsche ich mir in Bezug auf Zwangserkrankungen!

      Aggressive Zwangsgedanken sind furchtbar. Es freut mich sehr, dass du heute nicht mehr darunter leidest! Meine sind inzwischen zum Glück auch deutlich schwächer als früher und es sind jetzt eher andere Zwangsgedanken, die mich ärgern.

      Der Umgang ist wirklich das A und O bei Zwangsgedanken egal welcher Art, genau wie du schreibst. Ich sage mir immer: „Nicht bewerten“, wenn aufdringliche Gedanken auftauchen. Üben ist, was das angeht, mega wichtig.

      Liebe Grüße
      Nelia

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