Buchtipp: „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ von John Green

  • Genre: Jugendroman / Young Adult
  • Originaltitel: „Turtles all the way down“
  • Verlag: Carl Hanser Verlag
  • Seitenzahl: 288
  • verfügbare Formate: Hardcover und e-Book
  • Preis: 20 Euro (für die gebundene Version)

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Worum geht´s?

Die 16-jährige Aza Holmes hatte ganz sicher nicht vor, sich an der Suche nach dem verschwundenen Milliardär Russell Pickett zu beteiligen. Sie hat genug mit ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, die ihre Gedankenwelt zwanghaft beherrschen. Doch als eine Hunderttausend-Dollar-Belohnung auf dem Spiel steht und ihre furchtlose beste Freundin Daisy es kaum erwarten kann, das Geheimnis um Pickett aufzuklären, macht Aza mit. Sie versucht Mut zu beweisen und überwindet durch Daisy nicht nur kleine Hindernisse, sondern auch große Gegensätze, die sie von anderen Menschen trennen. Für Aza wird es ein großes Abenteuer und eine Reise ins Zentrum ihrer Gedankenspirale, der sie zu entkommen versucht.

(* Inhaltsangabe und Coverabbildung stammen von der Verlagshomepage.)

Meine Meinung

Mit seinem „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ konnte John Green mich begeistern. Ich liebe dieses Buch und habe meine Lieblingspassagen bereits viele Male gelesen.

Als ich dann erfuhr, dass Green dieses Jahr einen neuen Roman veröffentlichen würde, freute ich mich. Als ich mitbekam, dass die Protagonistin ein Teenager mit Zwangsstörung sein sollte und John Green selbst seit Jahren unter dieser Erkrankung leidet, um so mehr. Dementsprechend hoch waren aber auch meine Erwartungen: Von einem Autor, der selbst betroffen ist, erwarte ich eine noch realistische(re) Darstellung des Themas als von einem nicht Erkrankten. Gleichzeitig sollten Charaktere, Handlung und Schreibstil natürlich auch überzeugen und nicht nur die Umsetzung der Krankheitsthematik! Ist John Green all das gelungen?

Meine Antwort darauf lautet eindeutig: Ja!

Gleichzeitig muss ich aber auch einräumen, dass ich nachvollziehen kann, dass dieses Buch vielleicht nicht für alle Leser so zugänglich ist wie sein Vorgänger und bei manchen aneckt. Warum, möchte ich im Folgenden ebenso erklären wie die Aspekte, die mir gefallen haben.

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„Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ ist handlungsmäßig ein sehr ruhiger Roman. Im Zentrum der Erzählung stehen eindeutig die Charaktere sowie ihre innere Entwicklung, vor allem die von Aza. Die Suche nach dem verschwundenen Milliardär nimmt dem gegenüber einen deutlich geringeren Stellenwert ein. Das hat mich nicht gestört, eher im Gegenteil, denn ich lese sehr gerne Bücher dieser „leisen“ Art. Ich kann aber verstehen, wenn der ein oder andere darüber enttäuscht ist, denn der Klappentext lässt auf mehr Action schließen.

Die wichtigsten Charaktere – Aza, ihr alter Schulfreund Davis, der der Sohn des verschwundenen Milliardärs ist und Azas beste Freundin, Daisy – sind wie schon Hazel und Gus  aus „Das  Schicksal ist ein mieser Verräter“ sehr besondere, in Daisys Fall wohl auch spezielle Charaktere 😉 Sie fallen durch ihre Interessen und Hobbys, Verhaltensweisen und ihre geistige Reife (Letzteres trifft vor allem Aza und Davis zu) aus der Norm.

Aza lernt man dadurch, dass sie nicht nur die Protagonistin, sondern auch die Ich-Erzählerin ist, am besten kennen. Die Ich-Perspektive ermöglicht es dem Leser, einen tiefen Einblick zu bekommen in ihr Leben mit einer Angststörung und einer Zwangsstörung. Und dieser Einblick ist wirklich intensiv. Denn gemeinsam mit Aza wird der Leser immer wieder mit dem konfrontiert, was sie ihre „Gedankenspiralen“ nennt: aufdringliche Gedanken (Zwangsgedanken) und Ängste zum Thema Krankheit und Infektionsrisiko sowie zwanghaftes Grübeln über die Frage, ob sie wirklich existiert, ob es wirklich ein Ich gibt und was dieses ausmacht. Diese Gedanken verschlingen viel von Azas Zeit und Kraft und veranlassen sie auch zu verschiedenen Zwangshandlungen zur Beruhigung ihrer Angst.

Als Betroffene finde ich, dass Green die ganze Zwangsproblematik realistisch und glaubwürdig schildert. Beim Lesen habe ich immer wieder mit Aza mitgelitten und mitgefiebert, mir  gewünscht, dass sie es schafft, den Impulsen zu ihren Zwangshandlungen zu widerstehen und konnte es doch so gut nachvollziehen, wenn sie dann doch nachgegeben hat. Der Roman zeigt auf eindringliche Weise, wie das Leben mit  einer ausgeprägten Zwangserkrankung ausschauen kann. Diese Eindringlichkeit und die Realitätsnähe waren aber auch der Grund dafür, dass ich das Buch nicht an einem Stück lesen konnte. Manche Passagen haben mich emotional so mitgenommen und mich so sehr an eigene Gedanken und Gefühle erinnert, vor allem zu Beginn meiner Erkrankung, dass ich eine zeitlang Abstand brauchte, bevor ich weiterlesen konnte.

Anhand von Azas Krankheitsverlauf (sie leidet zum Zeitpunkt der Erzählung bereits seit einigen Jahren unter ihrer Erkrankung, hat fünf Jahre kognitive Verhaltenstherapie hinter sich und mehrere Antidepressiva ausprobiert) wird deutlich, dass Zwangserkrankungen leider zur Chronifizierung neigen und bei der Behandlung dann viel Geduld und Motivation gefragt ist.

In einigen Rezensionen habe ich gelesen, dass manche Leser das Buch als zu deprimierend oder langweilig erlebt haben. Ich kann das verstehen. Als Nicht-Betroffene(r) bzw. ohne Vorwissen zum Thema Zwangsstörungen und Angsterkrankungen fragt man sich vielleicht, warum sich da jemand so extrem in seinen Gedanken verliert, obwohl es doch „nur“ Gedanken sind.

Wer es aber schafft, sich nichtsdestotrotz auf diese ungewöhnliche Erzählung einzulassen, wird belohnt mit einem realistischen Einblick in das Thema Zwangsstörungen und gleichzeitig so manchen tiefgründigen Gedanken und Überlegungen zu den Themen Freundschaft, Zusammenhalt und Identität. Auch Humor und Ironie kommen wie in Greens anderen Büchern nicht zu kurz und lockern manches auf. Die Liebesgeschichte (ich hoffe es ist kein Spoiler, dass ich das jetzt schreibe …) nimmt in der Handlung nur wenig Raum ein und ist ganz unaufdringlich.

Fazit  (mit leichtem Spoiler bezüglich des Endes)

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ ist ein leises, eindringliches Buch über das Leben mit chronifizierter Zwangserkrankung, die Suche nach sich selbst im Teenageralter und Freundschaft und Zusammenhalt. Es ist kein Buch, das sich mal einfach so eben runterlesen lässt, sondern erfordert vom Leser die Bereitschaft, sich auf Azas Gedankenwelt einzulassen und Angst und Beklemmung mit ihr auszuhalten. Dadurch ist es kein reiner Unterhaltungsroman, sondern ein nachdenklich stimmendes Jugendbuch, das man vielleicht nicht dann lesen sollte, wenn man gerade selbst in einem emotionalen Tief steckt.

Ich habe mich beim Lesen unglaublich verstanden gefühlt. Danke dafür an John Green!

Das Ende hat mich, ohne spoilern oder übertreiben zu wollen,  fast zum Weinen gebracht. Es ist nicht das glückliche Ende, das Aza, die so tapfer kämpft, verdient hat, nicht das Ende, das ich allen Erkrankten und auch mir selbst wünsche: komplette Heilung. Und doch ist es vielleicht auch gerade deswegen ein realistisches Ende, das trotzdem auf seine Art Hoffnung birgt.

(Ich danke dem Hanser Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.)

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Lesempfehlung: Blog über aggressive Zwangsgedanken

Hiermit möchte ich euch wärmstens den Blog von Sam empfehlen, der auch unter aggressiven Zwangsgedanken leidet. Der letzte Post liegt leider schon etwas länger als ein Jahr zurück – aber ich wollte den Blog trotzdem unbedingt vorstellen, weil ich Sams Erklärungen sehr, sehr hilfreich und gut beschrieben finde. Er berichtet u.a. über seine Erfahrungen mit Expositionsübungen.

Also, wer mag, hier geht es zum Blog: Aggressive Zwangsgedanken

Leseempfehlung: Blog mit Interviews über das Leben mit psychischen Erkrankungen

Zwischendurch durchstöbere ich das Netz immer wieder mal nach interessanten Artikeln, Posts oder Erfahrungsberichten zum Thema Zwangserkrankungen für den Blog.

Auf dem Blog „Daily cup of madness“ (nebenbei bemerkt, was für ein genialer Titel und dazu noch das schöne Blogdesign!) erzählt eine junge Frau im Interview mit der Bloggerin vom Entstehen ihrer Zwänge und darüber, was ihr geholfen hat, sich letztlich ihre Freiheit zurückzuerkämpfen. Mich hat das Interview sehr berührt, u.a., da es die starke Beeinträchtigung im Alltag durch die Krankheit deutlich macht und die Absurdität, in der man sich als Zwangserkrankte/r bewegt (zu wissen, dass die eigenen Zwangsrituale eigentlich unsinnig sind und sie doch nicht unterlassen zu können, weil die Angst oder andere unangenehme Gefühle so stark sind).

Hier der Link:

https://dailycupofmadness.com/2017/09/04/it-kind-of-works-like-when-you-tell-someone-dont-think-of-a-pink-elephant-and-what-do-you-end-up-thinking-about-pink-elephants/