Es ist okay

Meine Liebe,

es ist okay, wenn du dich an manchen Tagen am liebsten zuhause vor der Welt verkriechen möchtest, dort, wo es sicher und gemütlich ist.

Es ist okay, wenn du phasenweise müde bist und enttäuscht, wenn Symptome sich zurückmelden und dir dann einfach nur wünschst, „ganz“ gesund zu sein.

Es ist okay, um deine Ehe zu trauern und das Gefühl zu haben, niemand versteht deinen Schmerz.

Es ist okay, dir manchmal so sehr eine eigene Familie zu wünschen und sich gleichzeitig zu fragen, ob du überhaupt eine gute Mutter sein könntest.

Es ist okay, manchmal in den Spiegel zu schauen und dich zu fragen, wo die Jahre geblieben sind und wütend und traurig darüber zu sein, wie viel Zeit dir deine Krankheiten getrübt haben.

Es ist okay, genug zu haben von dem ganzen Corona-Irrsinn.

Du darfst all das fühlen und noch mehr.

An dieser Stelle würde ich gerne mit „in Liebe“ enden, aber da ich weiß, dass du dich mit Selbstliebe noch schwer tust, bleibe ich bei „herzliche Grüße“,

dein Ich

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Nun gut

Da ist sie also, eine neue depressive Episode. Wie ein unerwünschter Gast hat sie sich innerhalb von ein paar Wochen in mein Leben gestohlen.

Sie zeigt mir einerseits, dass ich insgesamt doch noch nicht so gefestigt bin wie gedacht – andererseits aber auch, dass ich meine Frühwarnzeichen inzwischen ziemlich gut kenne und deutlich mehr Coping-Strategien habe als noch bei den ersten Episoden. Während ich früher in der Depression z.B. starke Probleme hatte mit zeitigem Aufstehen, Haushalt und genug Bewegung, klappt das nun ziemlich gut.

Zum Teil liegt das vielleicht auch darin begründet, dass ich inzwischen laut Hausarzt eine sogenannte agitierte Depression habe. Statt wie früher mit Antriebslosigkeit kämpfe ich nun vielmehr mit innerer Unruhe und getrieben Sein während einer depressiven Episode. Ich habe Probleme damit, mich nur auf eine Sache zu konzentrieren, springe teils von Tätigkeit A zu B und habe vor allem Schwierigkeiten damit, länger Ruhe auszuhalten.

Generell neige ich seit einiger Zeit dazu, mich in Aktivitäten zu flüchten, um bestimmte Gefühle zu vermeiden, die in solche stillen Momenten aufkommen und mir manchmal unerträglich scheinen – wobei all dieses aktiv Sein mit zu wenig Pausen dann aber irgendwann logischerweise zu Erschöpfung führt. Dazu Ängste, Panikattacken und sich dazu mogelnde Zwangsgedanken, die ebenfalls aufpushen.

ABER:

Die größten Faktoren dafür, dass ich zur Zeit trotz Depression recht viele Dinge angehe und schaffe, sind vor allem meine mit der Zeit erworbenen Selbsthilfestrategien und Therapieerkenntnise. Und darauf bin ich stolz. Ja, es geschehen noch Zeichen und Wunder, ich bin tatsächlich mal stolz auf mich #sarkasmusende

Manchmal fühlt es sich trotzdem nach Versagen an: einen Rückfall bekommen zu haben, trotz inzwischen mehreren Jahren Therapie, trotz medikamentöser Rückfallvorbeugung, trotz der ganzen Fortschritte und Selbsterkenntnisse in den letzten Jahren, trotz der Ausbildung, die mir Freude macht und eine Motivation für die Zukunft ist. Dann quält mich mein depressives Hirn mit Gedanken wie:

„Selbst schuld.“

„Vielleicht willst du ja absichtlich krank bleiben!?“

„Anderen geht es schlechter, du hast kein Recht, so rumzujammern und deine Behandler zu nerven. Du musst das jetzt allein schaffen und aushalten.“

„Du willst doch nur Aufmerksamkeit. Du bist gar nicht richtig krank.

… und dergleichen Nettigkeiten mehr.

Allerdings kenne ich diese Gedanken schon von früheren depressiven Phasen und bemühe mich daher, sie als Krankheitssymptom zu betrachten – und nicht als Wahrheit.

Aber ja: Es tut (manchmal sogar schrecklich) weh, wieder depressiv geworden zu sein, insbesondere, da es mir die letzten Monate bis auf mehr oder minder kleinere Einbrüche gut ging. Es ist, als würde man einem Kind einen besonders leckeren Lolli hinhalten, es probieren lassen – und ihm den Lolli dann wieder wegnehmen.

Vielleicht habe ich mich auch ein wenig zu sehr anstecken lassen von der Euphorie, die die Ausbildung teilweise in mir ausgelöst hat. Darüber hatte ich letztens erst ein interessantes Gespräch mit einer Mitschülerin. Habe – ungewöhnlich für meine Verhältnisse – tatsächlich zeitweise daran geglaubt, irgendwann komplett genesen zu können, nur „durch Kraft meines eisernen Willens“ #pathetischkannsie Obwohl ich durch die intensive Auseinandersetzung mit Behandlungsleitlinien, Fachliteratur und dem Miterleben diverser chronischer Krankheitsverläufe im Familienkreis eigentlich weiß, dass eine vollständige Heilung in meinem Fall unwahrscheinlich ist. Zwangsstörungen verlaufen oft chronisch und eine rezidivierende Depression rezidiviert nun einmal gerne, Überraschung!

Nun gut, also entscheide ich mich bewusst für Akzeptanz. Ohne mich dabei von Prognosen und Statistiken verrückt machen zu lassen, wie der Literatur als hoch beschriebenen Rückfallwahrscheinlichkeit ab einer bestimmten Anzahl depressiver Episoden in der Vorgeschichte. Auch wenn das Akzeptieren immer noch weh tut. Und hin und wieder zu sinnlosen, wütenden Fragen in meinem Kopf führt wie:

Warum darf ich nicht gesund sein? Ich strenge mich doch so an!

Kindliche Fragen und Gedanken. Denn, liebes wütendes, manchmal verzweifelndes Ich, es gibt leider kein Recht auf Gesundheit im Leben. Also, lass es uns mit Fassung und würdevoll tragen. Auf solche Fragen gibt es keine Antworten und sie tragen auch nicht dazu bei, dass du dich besser fühlt. Im Gegenteil.

Deshalb lautet die aktuelle Devise:

ein Tag nach dem anderen, notfalls eine Stunde nach der anderen. Weiterhin für mich kämpfen und nicht aufgeben. Auch wenn es sich nicht immer so anfühlt, es wird wieder besser werden. Was ich schon mehrfach geschafft habe, schaffe ich auch erneut. Ich gehe durch die Dunkelheit und werde mich nicht darin verlieren. Und an ihrem Ende wird es mir wieder besser gehen und ich kann als das Gute, Schöne, Wertvolle, Helle in meinem Leben wieder genießen. Und weiter auf meinem Weg voranschreiten – auch wenn dieser wohl nicht in kompletter Genesung enden wird.

9 Jahre

Letztens beim Blättern in Unterlagen stieß ich auf das Datum … Heute sind es auf den Tag genau 9 Jahre, seit ich die Diagnosen Depression und Zwangsstörung bekam. Zeit, zurückzublicken und melancholisch zu werden, denkt sich etwas in mir wohl gerade dabei.

Also gut, Rückblick: Ich hatte gerade ein gutes Abi gemacht, war glücklich vergeben und zu Beginn meines Wunschstudiums von Zuhause ausgezogen. In meiner Unistadt hatte ich eine gemütliche, eigene Studentenwohnung und auch die Finanzierung des Studiums stand auf sicheren Beinen. Ich vermisste meine Freunde und meine Familie, die ich in Folge des Umzugs seltener sah, als mir lieb war, aber wir telefonieren, schrieben uns Briefe oder WhatsAppten. Augenscheinlich also geringste Grund, depressiv zu werden, oder?

Das dachte ich damals und jahrelang danach ehrlich gesagt auch noch. Bis vor kurzem sogar. Heute sehe ich das anders.

Zu diesem Zeitpunkt schleppte ich bereits circa sechs Jahre die bis dato nicht diagnostizierte Zwangserkrankung mit mir herum, die sich schleichend verschlechterte, etwas später dann auch die Trichotillomanie und Anzeichen einer Angsterkrankung. Daneben gab es unverarbeitete Altlasten aus Kindheit und Teenagerzeit. Im Nachhinein wundert es mich, dass der große Knall nicht eher kam. (Wobei ich natürlich froh und dankbar darüber bin, die Schulzeit und den Schulabschluss ohne größere Probleme überstanden zu haben.)

Liebes damaliges Ich,

ich weiß, du kannst es dir gerade nicht vorstellen, denn du bist in einer schweren Depression gefangen, die dir vorübergehend die Fähigkeit raubt, dir eine positive Zukunft für dich vorzustellen. Aber du wirst das alles hier überstehen: das quälende Gefühl der Gefühllosigkeit und die Antriebslosigkeit, die Angst davor, den Verstand zu verlieren und die schrecklichen Selbstzweifel, die Scham und die Schuldgefühle wegen deiner Zwangsgedanken. Du bist nicht wertlos, nicht an sich schlecht oder falsch, so wie die Depression es dir einreden will!

In den folgenden Jahren wirst du noch einige harte Kämpfe ausfechten: Du wirst durch mehrere mal mehr, mal weniger schwer ausgeprägte depressive Episoden watten, mit der Angst und den Zwängen kämpfen.

Aber du wirst nicht aufgeben, auch wenn dir das an den Tiefpunkten verführerisch erscheint. Du bist eine Kämpferin und stärker, als du glaubst! Auf deinem Weg raus aus deinem inneren Schattenlabyrinth werden dich viele Menschen begleiten: Freunde, Familie, Partner, Mitpatienten, aber auch profesionelle Helfer und Menschen, die du nur online kennst. Sie werden dich auf verschiedene Weise unterstützen und dir immer wieder Kraft geben. Was ich damit sagen möchte: Du bist nicht allein, auch wenn du dich manchmal so verloren und isoliert fühlst! Und ja, deine Lieblingsmenschen mögen dich wirklich, obwohl du dir das in den Tiefen der Depression nicht vorstellen kannst und insgeheim Angst davor hast, verlassen zu werden.

Heute, neun Jahre später, bist du nicht geheilt. Du nimmst weiterhin ein Antidepressivum, manchmal auch Bedarfsmedikation. Du warst in stationärer und tagesklinischer Behandlung. Das war beides so ganz anders, als du angenommen hattest: Es hatte nichts von „Einer flog übers Kuckucksnest“, sondern war größenteils wirklich hilfreich. Jetzt gehst du auch zur Therapie und lernst, dich immer mehr zu öffnen und über Themen zu sprechen, die du länger verdrängt hast oder über die es dir schwer fällt zu reden.

„Hah, und das soll mir jetzt Mut machen?“, denkst du. „Ich will richtig gesund werden“!

Ich weiß, du denkst gerne in Schwarz-Weiß-Gegensätzen und Absolutheit. „Entweder gesund oder krank, geheilt oder nicht, Gewinnen oder Scheitern. Und am besten noch alles alleine schaffen, ohne Hilfe von außen“! ist deine Devise.

Erlaube mir, dir jetzt schon ein Geheimnis zu verraten, hinter das du erst in ein paar Jahren kommen wirst: Das Leben kann schön sein und ist wertvoll, auch wenn du (noch?) nicht gesund bist.

Jetzt, im Hier und Heute, bist du weiterhin am Leben und hast sehr viel gelernt, über dich und vielleicht auch das Leben an sich, so pathetisch und kitschig sich das auch anhört. Du kommst immer besser mit deinen Erkrankungen zurecht und hast nicht mehr die gleiche, riesige Angst wie früher vor einer erneuten depressiven Episode, weil du inzwischen einige Wege kennst, wie du dir im Fall der Fälle selbst besser helfen kannst. Du hast deine Familie und deine Freunde, bist verheiratet und hast deinen ersten Uniabschluss geschafft, einen Nebenjob, der dir Spaß macht und dir viel gibt, und du hast viele Interessen. Für die Zukunft hast du einige Träume und eine Liste mit Dingen, die du gerne erleben würdest ...

Ich weiß, du kannst es dir momentan nicht vorstellen, aber dein Kampf lohnt sich. Ich danke dir, dass du durchgehalten und nicht aufgegeben hast, denn sonst wäre ich heute nicht hier.

(* Inspiriert zu dem Brief hat mich ein Text aus dem grandiosen, bewegenden Buch „Ziemlich gute Gründe am Leben zu bleiben“ von Matt Haig, in dem Haig sein heutiges zu seinem damaligen depressiven Ich sprechen lässt).