Nicht mehr zählen

Habe ich meine depressiven Episoden in der Vergangenheit noch gezählt, habe ich mich nun bewusst dafür entschieden, das in Zukunft nicht mehr zu tun.

(Kurze Erklärung dazu: Das Zählen ist möglich, da ich zwischen den Episoden glücklicherweise mehr oder weniger depressionsfreie Intervalle habe.)

Okay, um ehrlich zu sein: In meinem Kopf geistert der aktuelle Stand immer noch herum. Der Gedanke daran lässt sich aber genauso wenig unterbinden wie Zwangsgedanken, wie treue Blogleser wissen (Stichwort: rosa Elefant).

Aber, wenn Vergessen nicht möglich ist, kann ich mich doch zumindest dafür entscheiden, mir von einer Zahl keine Angst mehr machen zu lassen in Hinblick auf meine Zukunft/Prognose – oder mich ihretwegen zu schämen. Ob ich seit Erkrankungsbeginn zwei depressive Episoden hatte, fünf oder zehn – ich kann es nicht mehr ändern. Und auch nicht mein Wissen darüber ausradieren, was die Behandlungsleitlinien und Co. zur Rezidiv-Wahrscheinlichkeit bei Verläufen wie meinem sagen. Was ich aber sehr wohl ändern kann: die Art, wie ich damit umgehe.

Und statt wie mich wie bisher vor mir selbst oder anderen zu schämen dafür, wie oft die Depression mich in den letzten Jahren beehrt hat, oder in Sorgen darüber zu versinken, wie lang mein depressionsfreies Intervall wohl dieses Mal anhalten mag, möchte ich jetzt in Zukunft einfach eins: Leben. Heißt, genießen, wenn es mir gut geht, solange wie es mir gut geht.

Ich möchte mich nicht mehr schämen für eine Erkrankung, die ich mir nicht ausgesucht habe und auch nicht für ihren Verlauf. Und, auch wenn ich es selbst gar nicht mag, wenn Behandler*Innen mir in sehr depressiven Phasen mit diesem Satz kommen: Im Vergleich zu früher ist es tatsächlich deutlich besser geworden, was die Dauer der einzelnen Episoden und meinen Umgang damit angeht.

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Hello again

Schauplatz: Klinik des Vertrauens, Depressionsstation

Handelnde Personen: Mitpatienten, viele noch vom letzten Jahr bekannte Gesichter auf Seiten der Mitarbeiter, die Autorin dieses Blogs

Handlung im Groben: Erneute depressive Episode, die sich trotz engagiertem ambulanten Behandlungsversuch zuletzt schnell verschlechtert hat, Panikattacken

Handlung ausführlicher: Scham und – bis zu dieser Erkenntnis dauerte es etwas – unberechtigte, erkrankungsbedingte Schuld- und Versagensgefühle darüber, das Ganze ambulant nicht stemmen zu können, wo doch bereits viel Therapieerfahrung besteht. Wiederholte Versicherungen Außenstehender, dass dazu kein Grund bestehe: „(Chronisch) krank zu sein hat nichts mit Versagen oder Schwäche zu tun. Es ist gut, sich zeitnah Hilfe zu holen, bevor es noch weiter Berg ab geht!“

Ermüdende depressive Stimmungsschwankungen im Tagesverlauf, innere Unruhe und Co. Später Symptomverlagerungen: Depressionssymptome bessern sich, dafür mehr Zwangsgedanken mit Angst, den Verstand zu verlieren.

Stationsalltag mit Maskenpflicht: leicht surreal und irgendwie erheiternd. Aktueller Dauerbrenner in der Ergotherapie: sich selbst Masken nähen. Mit allen möglichen Farben, Motiven und Mustern bringen sie selbst Depressive zum Lächeln und Schmunzeln.

Natur, Sport, Musik Hören als Selbsthilfestrategien. Im Vergleich zu früheren Behandlungen schon nach kurzer Zeit eine erstaunliche Verbesserung des Zustands. Erleichterung, Freude, Zuversicht: Läuft. Vielleicht geht es dieses Mal ja wirklich schneller als sonst!

Dann: Rückschlag, wieder im tiefen Tal, Verzweiflung: Ich verharre jetzt für immer in diesem Zustand.

Mal suizidale Gedanken, dann wieder nicht. Glücklicherweise aber irgendwo im Hinterkopf immer noch das Wissen darüber, dass die Depression lügt: Auswegslosigkeitsempfinden ist nur ein Symptom. Gib nicht auf, bleib‘. Empathie, ermutigt werden, Hilfsangebote, Halt bekommen: „Sie müssen da nicht allein durch, wir helfen Ihnen dabei.“ Zunächst gar nicht so leicht anzunehmen, doch es wird. Tiefe Dankbarkeit: Ich werde ernst genommen. Ich werde nicht allein gelassen.

Medikamentenumstellung, Absetzsymptome und Nebenwirkungen: „Wir warten noch bis Dienstag ab.“ – Ein Mal Geduld zum Mitnehmen für mich, aber schnell bitte!

Inzwischen weniger Rückzug und soziale Ängste, stattdessen mit den Mitpatienten Lachen, Karten Spielen, Reden. Dazu gehören, gemocht werden, nicht allein sein mit den inneren Monstern und Kämpfen: so heilsam.

Ergotherapie, Visiten, Einzelgespräche etc.: Ehrlich sein, die Maske aus „Ach es geht schon irgendwie“ nicht mehr brauchen müssen. Verständnis, Freundlichkeit, akzeptiert werden, wie man ist, Unterstützung, Vorschläge, konfrontiert werden, Reflektieren zusammen und allein, neue Erkenntnisse über sich und seine Probleme gewinnen und alte, verschüttete wieder ins Gedächtnis rufen: nicht immer schmerzfrei, aber immer hilfreich.

Rückhalt von Familie und Freunden: Dankbarkeit, Liebe, wichtigster Grund, nicht aufzugeben.

Angst vor dem wieder allein Sein Zuhause nach der Entlassung versus Ich will am liebsten jetzt schon heim. Sich selbst bremsen, nicht zu weit in die Zukunft denken, sondern im Hier und Jetzt bleiben, nur an die nächste Stunde denken. Lernen, langsamer zu machen, Unsicherheit auszuhalten, nicht wie gewohnt in die Überkompensation zu gehen, sobald wieder genug Energie dafür vorhanden ist. Du musst hier keine Leistung bringen. – „Was mögen Sie an sich selbst, was nichts mit Leistung oder Anerkennung durch die Anderen zu tun hat?“ – Ach …

Lernen, wirklich zu akzeptieren: Ja, ich bin und bleibe wahrscheinlich mein Leben lang chronisch krank. Sich die Trauer endlich voll zugestehen, die dieses Eingeständnis mit sich bringt. Aber darüber nicht vergessen: Ich kann mein Leben trotzdem mit vielen, vielen Farben füllen und es genießen.

Die Depression überleben, um wieder zu leben.

Das Positive würdigen

Momentan habe ich das Gefühl, in einem depressiven Loch zu stecken. Ich denke, verschiedene Stressoren spiel(t)en dabei eine Rolle. Doch auf diese möchte ich in diesem Beitrag gar nicht weiter eingehen, sondern versuchen, mich auf positive Entwicklungen der vergangenen Tage und Wochen zu konzentrieren. Anlass dazu war ein hilfreiches Gespräch mit meinem Arzt, der meinte, ich würde den negativen Dingen generell mehr Aufmerksamkeit widmen als den positiven… erwischt.

Also hier nun die Ergebnisse meines Positiv-Brainstormings:

  • Ich habe mit dem Streichen meines Schlafzimmers angefangen und schon viele Ideen für weitere Verschönerungsaktionen meiner Wohnung.
  • Ich bin jetzt am achten Tag ohne Haare Ausreißen und merke bereits, wie meine Haut sich erholt.
  • Ich konnte meiner Schwester letztens mit meinen Genesungsbegleiterskills hilfreich zur Seite stehen.
  • Ich habe leckere Zimtbrötchen gebacken und konnte meiner Ergotherapeutin eine kleine Freude machen, indem ich ihr welche mitgebracht habe.
  • Die Kurzform meiner Lebensgeschichte für das Portfolio ist fertig. Gar nicht so einfach, sein ganzes Leben in vier Seiten zu verpacken.
  • Ich habe mich getraut, mich bei meiner Therapeutin und meinem Arzt zu melden, als es mir akut schlecht ging, trotz schlechten Gewissens deswegen.
  • Meine beste Freundin und ich kommen gut mit unserem Schreibprojekt voran.