Wut und ich: über ein schwieriges Verhältnis

Ich bin gerade so wütend. Ich, die ich oft Probleme mit Wut habe und deshalb von mehr als einem Fachmenschen zu hören bekommen habe, dass ich lernen müsse, Wut zuzulassen und zu äußern, statt sie zu schlucken aus Angst vor Zurückweisung.

Tatsache ist:

Wütende, laute Menschen machen mir meist automatisch Angst – oder erzeugen zumindest spürbares Unbehagen. Die Wut anderer unmittelbar mitzubekommen erinnert mich an jene Phase meiner Kindheit, als sich eines meiner Elternteile aus beruflichen Gründen noch nicht traute, sich Hilfe für seine Depression zu suchen. Das andere Elternteil und ich haben in dieser Zeit mehrere cholerische Wutanfälle miterlebt. Damit wurde es glücklicherweise deutlich besser, als das betroffene Elternteil sich irgendwann professionelle Hilfe holte. Aufgrund dieser Erfahrungen finde ich es unsagbar wichtig, dass:

a) unsere Gesellschaft Menschen nicht mehr dafür stigmatisiert, dass sie eine seelische Erkrankung haben

Weil das nämlich zur Folge haben kann, dass die Leute sich nicht trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen – sei es aus Sorge um berufliche Konsequenzen, sei es aus Scham gegenüber Familie und Freunden, aus Angst, als schlechte Eltern angesehen zu werden oder anderen Gründen.

Ich denke, gerade bei Vätern/Müttern, die womöglich Alleinverdiener sind und bei Alleinerziehenden ist die Sorge vor möglichen negativen Konsequenzen vielleicht noch mal stärker ausgeprägt. Weshalb der ein oder andere dann eben lieber nicht zum Arzt oder Therapeuten geht bzw. den Gang dorthin lange aufschiebt.

Das Vermeiden oder Aufschieben einer notwendigen Behandlung ist aber weder hilfreich für Genesung der Betroffenen noch für das Klima innerhalb einer Familie, sodass es am Ende im schlimmsten Fall nur Verlierer gibt. Nämlich den/die Erkrankte(n), der unnötig länger leidet und dessen Krankheit sich vielleicht verschlechtert oder chronifiziert, den/die möglichen Partner und das Kind bzw. die Kinder. Das Kind, dessen Risiko ansteigen kann (nicht muss), selbst irgendwann psychisch zu erkranken durch etwaige belastende Erfahrungen, die es vielleicht mit seinem unbehandelten Elternteil macht.Und das alles ist so traurig und unnötig und zum wütend Werden. Wobei wir wieder beim Titel dieses Beitrags wären …

b) Kinder psychisch kranker Eltern mehr Aufmerksamkeit und Unterstützungsmöglichkeiten bekommen

Ich habe den Eindruck, in den letzten Jahren ist in diesem Punkt zum Glück schon einiges in Bewegung gekommen. Das ist großartig.

Was mir persönlich geblieben ist von diesen speziellen Kindheitserfahrungen ist u.a. wie oben schon gesagt, dass Wut mir meist Angst macht. Die Wut der anderen, aber auch meine eigene. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich soweit war, das zu erkennen und noch etwas mehr Zeit, bis ich ernsthaft etwas daran ändern wollte.

Wut ist gefährlich!

Wut ist schlecht!

Wütend sein heißt, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Wütend sein führt dazu, andere ungerecht zu behandeln.

Wutanfälle sind kindisch und undiszipliniert und deshalb nicht tolerierbar für mich.

Diese und ähnliche innere Überzeugungen begleiteten mich lange. Sie tauchen auch heute noch öfters in meinen Gedanken auf, obwohl ich inzwischen verstanden habe, dass Wut nicht per se schlecht oder gefährlich ist.

Denn:

Wut kann uns darauf aufmerksam machen, dass eine unserer persönlichen Grenzen gerade übertreten wurde, dass irgendetwas passiert ist, das uns nicht gut tut bzw. einem unserer Bedürfnisse zuwider läuft.

Wut kann uns Energie verleihen, uns gegen Grenzüberschreitungen zu verteidigen und für uns oder Menschen, die uns wichtig sind, für unsere Werte und Ziele, einzutreten.

Wütend zu sein, das bedeutet eben nicht automatisch, sich wie ein cholerisches HB-Männchen aufzuführen oder andere verbal oder körperlich zu verletzen, die Kontrolle über sich zu verlieren etc., wie mir meine Gedanken lange Zeit einreden wollten.

Wahrscheinlich ist es deswegen als Therapiefortschritt zu werten, dass ich vorhin so wütend war, dass ich am liebsten die Tassen beim Abwaschen gegen die Wand geschmissen hätte (was ich aber nicht getan habe 😉). Und vor allem, dass mir dieser Gedanke gerade keine Angst mehr macht.

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Muster erkennen

Inzwischen haben wir in der Therapie einen Punkt erreicht, in dem ich immer mehr Muster (von allein) erkenne.

Ein Beispiel: Während mir in der ersten Therapiephase, geschweige denn in den Jahren davor, oft unklar blieb, warum es mir zu bestimmten Zeiten schlecht ging, zu anderen aber gut, kann ich heute viel besser als früher mögliche Auslöser und Stressoren erkennen.

Jahrelang war ich der Meinung, es gäbe keine trifftigen Gründe dafür, dass ich unter Depressionen, Zwängen und Co. litt außer eben der familiären Veranlagung.

Meine Kindheit war schön, meine Jugend teilweise nicht einfach, aber im Großen und Ganzen auch gut. Ich lebe nicht im Krieg, ich bin nicht von Armut oder gefährlichen Krankheiten bedroht und mir ist zum Glück auch nichts Traumatisches zugestoßen. Also kein Grund für Depressionen etc.!

Heute sehe ich das etwas anders. Inzwischen kann ich (an-)erkennen, dass Dinge, die ich jahrelang für normal gehalten habe, es eben doch nicht sind. Dafür brauchte ich Menschen mit der Perspektive eines Außenstehenden, die mir halfen, Vertrautes aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Ja, da war manchmal dieser unerklärliche innere Schmerz, aber woher der kam? Schulterzucken. Und Weitermachen.

Das ging auch eine ganze Zeit gut, nur irgendwann eben nicht mehr und es kam zur ersten schweren depressiven Episode und einer deutlichen Verschlechterung der Zwangserkrankung und Angstsymptome. Doch damals war mir das alles noch nicht klar. Und so hatte ich das Gefühl, eben grundlos krank geworden zu sein. Fragte man mich in der Klinik oder später in der begonnenen ambulanten Therapie nach möglichen Auslösern für meine Erkrankungen jenseits genetischer/biologischer Faktoren, wurde ich je nach Stimmungslage entweder gereizt, insgeheim wütend und/oder reagierte mit Schuldgefühlen: „Ich habe kein Recht, depressiv zu sein!“ Ich verstand diese Fragen oft automatisch als Vorwurf, obwohl sie so natürlich nicht gemeint waren.

Was wollen die auch immer alle mit diesen Fragen, da war doch nichts! Schlechte Kindheitserfahrungen oder Ähnliches und deshalb psychisch krank? Tss, voll das Klischee! Nicht bei mir!

Es wird wohl deutlich, meine Haltung zu diesen Fragen war eine ziemlich abwehrende, negative, teilweise wohl auch überhebliche. Warum, kann ich nur vermuten. Aber ich denke, das spielt auch gar keine so große Rolle.

Wichtiger ist, dass ich es jetzt, mehrere Jahre nach Erhalten der Diagnosen und knapp zwei Jahre nach Therapiebeginn, schaffe, genauer hinzusehen. Damit möchte ich auf keinen Fall ausdrücken, dass meine Kindheit und Jugend in Wahrheit eine völlige Katastrophe gewesen wären und ich das immer nur ausgeblendet hätte, oder meinen Eltern pauschal die Schuld geben, dass ich krank geworden bin, oder oder. Ich liebe meine Familie und kann auf viele schöne Momente und glückliche Erinnerungen mit ihnen zurückblicken.

Was ich sagen möchte, ist einfach, dass ich es inzwischen schaffe, zu sehen, was ich länger nicht gesehen habe. Ich erkenne Muster, Verstrickungen, Zusammenhänge zwischen meiner Symptomatik und bestimmten Kindheits-, Jugend- und späteren Lebenserfahrungen. Lerne mich selbst immer besser zu verstehen, die Art, wie ich ticke und warum das so ist.

Ich beginne zu hinterfragen, was wirklich zu mir gehört und was die Lebensthemen meiner Eltern sind, aber nicht meine, was mir wichtig ist und was ich nur glaube, tun zu müssen, um Familie, Partner, Freunde oder Therapiepersonen nicht zu enttäuschen.

Ich merke auch, dass ich es jetzt schneller und besser schaffe als früher, mich aus Tiefs selbst wieder herauszumanövrieren, mit weniger Unterstützung von außen als noch vor ein paar Monaten. Dass die Depression an Intensität verloren hat und mich weniger oft mit ihrer entzückenden Gegenwart beehrt als noch vor sieben Jahren. Inzwischen kann ich sogar öfters aufrichtig daran glauben, dass ich irgendwann wieder gesund werden könnte …

Dieser Prozess ist so vieles zugleich: erhellend – ermutigend – mordsanstrengend – schmerzhaft, kurz: emotional aufs Höchste aufgeladen. Er gibt mir Hoffnungen für die Zukunft, macht aber auch manchmal Schuldgefühle, holt alte Verletzungen wieder hoch aus den Tiefen, in denen sie schlummerten, lässt mich hinterfragen, wer und wie ich bin und wer ich sein will. Das Neue macht Angst und gleichzeitig Mut.

Ich wachse …