Die Leiden der jungen Wartenden

Liebe Frau …,

normalerweise haben wir ja unseren 2 Wochen-Rythmus bei den Therapiestunden. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände (ich zwei Mal krank, Sie terminlich ausgelastet und danach länger im Urlaub) haben wir uns inzwischen rund 7 Wochen nicht mehr gesehen.

Sie meinten bei unserem letzten Telefonat vor ihrem Urlaub, diese Woche würden Sie wieder anfangen zu arbeiten und sich dann bei mir melden zur Terminvereinbarung. Sie sagten mir auch, Sie notieren sich das extra, nachdem ich Ihnen erklärt habe, wie wichtig es mir wäre, nach Ihrem Urlaub nicht noch weitere zwei Wochen auf einen neuen Termin warten zu müssen.

In der Zwischenzeit habe ich eine neue Handynummer und verwende die alte nicht mehr. Deswegen habe ich Ihnen an Ihrem ersten Tag zurück eine SMS geschrieben, damit Sie die neue Nummer abspeichern können. Aber ehrlich gesagt, ich habe auch geschrieben, um mich indirekt in Erinnerung zu rufen bzw. unsere Abmachung. Denn ich weiss, Sie sind manchmal etwas vergesslich und verpeilt 😉

Ich würde so gerne schnellstmöglich wieder mit Ihnen reden. Meine anstrengenden Gedanken und Gefühle mit Ihnen reflektieren, bestimmte Symptome einordnen, die mich verunsichern, mir von Ihnen Mut machen lassen. Dinge besprechen, über die ich mit anderen Menschen ungern reden mag und auch mit Ihnen lachen und ein bisschen Smalltalk machen.

Die letzten zwei Wochen waren von verstärkter Symptomatik geprägt. Momentan habe ich Angst, abzurutschen in eine neue depressive Episode oder vielleicht schon drin zu stecken in der Anfangsphase. Da sind/waren vermehrt Entfremdungserleben, Gereiztheit, Erschöpfung, selbstabwertende und lebensmüde Gedanken, Angst und Panik, das Gefühl, innerlich zu erstarren bzw. einzufrieren.

Als ich zu einem regulären Termin in der Ambulanz war, hat die Ärztin dort mir netterweise einen Überbrückungstermin angeboten, als sie mitbekam, dass ich gerade keine gute Phase habe und meine Therapeutin im Urlaub ist. Dieses Angebot hat mich gleich etwas aufgebaut. Leider wurde der Termin dann aber kurzfristig abgesagt und einen neuen, zeitnahen Termin konnten sie mir wegen Auslastung nicht geben.

Dazu kommt, worüber wir schon öfters gesprochen haben: meine Trennungs- bzw. Verlustängste. Rein rational weiß ich, Sie sind nur im Urlaub und nicht für immer verschwunden. Sie werden sich irgendwann in den nächsten Tagen bei mir melden; das haben Sie bisher immer. Ich kann mich auf Sie verlassen.

Aber emotional, da schaut es leider anders aus. Da fühle ich mich im Stich gelassen, weil wir uns jetzt länger nicht mehr gesehen haben und Sie mich bisher noch nicht wie besprochen angeschrieben oder auf meine SMS reagiert haben.

Mein inneres Kind ist traurig und wütend. Es fühlt sich allein gelassen, ist neidisch auf Ihre anderen Patienten, die Sie vor dem Urlaub anders als ich noch gesehen haben oder die jetzt vielleicht schon einen neuen Termin haben.

„Kindisch“ – „Übertrieben“ – „Bist du etwa von deiner Therapeutin abhängig?“ -„Schwach“ -„Früher bist du auch jahrelang ohne Therapeuten klar gekommen!“ – „Egoistisch, egozentrisch“ – „Gönnst du ihr den Urlaub nicht oder anderen Patienten einen Termin?“, kommentiert mein innerer Kritiker.

Selbstmitgefühl, das würden Sie sich sicher gerade von mir für mich wünschen – statt Selbstabwertung, die alles nur noch verschlimmert. Und Verständnis für meine Gefühle. Dass ich meinen inneren Kritiker zu entmachten versuche. Hach ja.

Mit Selbstliebe und Co. habe ich es nicht so, aber ich will versuchen, zumindest dieses mich selbst Fertig Machen zu lassen. Weil ich weiß, dass es alte Gefühle und Gedanken sind, die sich da momentan in den Vordergrund drängen – und dass die Realität eine andere ist. Nämlich die, dass Sie mich nicht vergessen haben, ich Ihnen auch nicht egal bin und dass sich ganz sicher irgendwann in den nächsten Tagen melden werden. Und falls nicht, dass Sie dann einen guten Grund dafür haben (z.B. Krankheit oder persönliche Probleme). Darauf will ich vertrauen.

In der Hoffnung, dass wir uns ganz bald wieder sehen,

Nelia

(Diesen Text habe ich nicht abgeschickt.)

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Wut und ich: über ein schwieriges Verhältnis

Ich bin gerade so wütend. Ich, die ich oft Probleme mit Wut habe und deshalb von mehr als einem Fachmenschen zu hören bekommen habe, dass ich lernen müsse, Wut zuzulassen und zu äußern, statt sie zu schlucken aus Angst vor Zurückweisung.

Tatsache ist:

Wütende, laute Menschen machen mir meist automatisch Angst – oder erzeugen zumindest spürbares Unbehagen. Die Wut anderer unmittelbar mitzubekommen erinnert mich an jene Phase meiner Kindheit, als sich eines meiner Elternteile aus beruflichen Gründen noch nicht traute, sich Hilfe für seine Depression zu suchen. Das andere Elternteil und ich haben in dieser Zeit mehrere cholerische Wutanfälle miterlebt. Damit wurde es glücklicherweise deutlich besser, als das betroffene Elternteil sich irgendwann professionelle Hilfe holte. Aufgrund dieser Erfahrungen finde ich es unsagbar wichtig, dass:

a) unsere Gesellschaft Menschen nicht mehr dafür stigmatisiert, dass sie eine seelische Erkrankung haben

Weil das nämlich zur Folge haben kann, dass die Leute sich nicht trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen – sei es aus Sorge um berufliche Konsequenzen, sei es aus Scham gegenüber Familie und Freunden, aus Angst, als schlechte Eltern angesehen zu werden oder anderen Gründen.

Ich denke, gerade bei Vätern/Müttern, die womöglich Alleinverdiener sind und bei Alleinerziehenden ist die Sorge vor möglichen negativen Konsequenzen vielleicht noch mal stärker ausgeprägt. Weshalb der ein oder andere dann eben lieber nicht zum Arzt oder Therapeuten geht bzw. den Gang dorthin lange aufschiebt.

Das Vermeiden oder Aufschieben einer notwendigen Behandlung ist aber weder hilfreich für Genesung der Betroffenen noch für das Klima innerhalb einer Familie, sodass es am Ende im schlimmsten Fall nur Verlierer gibt. Nämlich den/die Erkrankte(n), der unnötig länger leidet und dessen Krankheit sich vielleicht verschlechtert oder chronifiziert, den/die möglichen Partner und das Kind bzw. die Kinder. Das Kind, dessen Risiko ansteigen kann (nicht muss), selbst irgendwann psychisch zu erkranken durch etwaige belastende Erfahrungen, die es vielleicht mit seinem unbehandelten Elternteil macht.Und das alles ist so traurig und unnötig und zum wütend Werden. Wobei wir wieder beim Titel dieses Beitrags wären …

b) Kinder psychisch kranker Eltern mehr Aufmerksamkeit und Unterstützungsmöglichkeiten bekommen

Ich habe den Eindruck, in den letzten Jahren ist in diesem Punkt zum Glück schon einiges in Bewegung gekommen. Das ist großartig.

Was mir persönlich geblieben ist von diesen speziellen Kindheitserfahrungen ist u.a. wie oben schon gesagt, dass Wut mir meist Angst macht. Die Wut der anderen, aber auch meine eigene. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich soweit war, das zu erkennen und noch etwas mehr Zeit, bis ich ernsthaft etwas daran ändern wollte.

Wut ist gefährlich!

Wut ist schlecht!

Wütend sein heißt, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Wütend sein führt dazu, andere ungerecht zu behandeln.

Wutanfälle sind kindisch und undiszipliniert und deshalb nicht tolerierbar für mich.

Diese und ähnliche innere Überzeugungen begleiteten mich lange. Sie tauchen auch heute noch öfters in meinen Gedanken auf, obwohl ich inzwischen verstanden habe, dass Wut nicht per se schlecht oder gefährlich ist.

Denn:

Wut kann uns darauf aufmerksam machen, dass eine unserer persönlichen Grenzen gerade übertreten wurde, dass irgendetwas passiert ist, das uns nicht gut tut bzw. einem unserer Bedürfnisse zuwider läuft.

Wut kann uns Energie verleihen, uns gegen Grenzüberschreitungen zu verteidigen und für uns oder Menschen, die uns wichtig sind, für unsere Werte und Ziele, einzutreten.

Wütend zu sein, das bedeutet eben nicht automatisch, sich wie ein cholerisches HB-Männchen aufzuführen oder andere verbal oder körperlich zu verletzen, die Kontrolle über sich zu verlieren etc., wie mir meine Gedanken lange Zeit einreden wollten.

Wahrscheinlich ist es deswegen als Therapiefortschritt zu werten, dass ich vorhin so wütend war, dass ich am liebsten die Tassen beim Abwaschen gegen die Wand geschmissen hätte (was ich aber nicht getan habe 😉). Und vor allem, dass mir dieser Gedanke gerade keine Angst mehr macht.