Über’s vermeintliche Ertrinken

Inzwischen hatte ich zum ersten Mal die Psychoedukationsgruppe für Patienten mit Zwangserkrankung. Ich freute mich darauf und war gespannt, ob ich Neues dazu lernen oder vor allem auf schon Bekanntes treffen würde. Im Nachhinein: Die Basics kannte ich schon durch meine erste stationäre Behandlung und diverse Selbsthilfebücher. Aber es waren auch für mich neue Punkte dabei, die sich aus der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch mit meinen Mitpatienten ergaben.

Irgendwann kam dann aber der Wendepunkt im Laufe der Gruppensitzung, an dem meine Stimmung von „alles im Lot“ ins Gegenteil kippte. Genauer gesagt dann, als der Therapeut spontan eine kleine Übung mit uns machen wollte, die um’s magische Denken kreiste und dazu gedacht war zu verdeutlichen, dass auch gesunde Menschen manchmal abergläubische Verhaltensweisen und Unbehagen bei diesem Thema zeigen.

Für mich stellte das Ganze allerdings eine unerwartete Konfrontationsübung dar, da es zufällig um einen meiner quälensten Zwangsgedanken ging. Kurz nachdem der Therapeut die Übung erklärt hat, spürte ich Angst in mir aufkommen und immer mächtiger werden. Ziemlich schnell sagte ich, dass ich die Aufgabe nicht mitmachen würde und versank in einem Gefühlssturm in meinem Inneren aus Angst, Scham und Selbstkritik. Irgendwann hieß es dann Wasser Marsch.

Na super – jetzt weinst du auch noch vor der Gruppe!

Keiner der anderen stellt sich so an wie du!

Mein Impuls war, aus dem Raum zu fliehen. Aber ich blieb sitzen und hielt tatsächlich bis zum Ende durch. Darauf bin ich stolz.

Die nächsten Stunden versuchte ich, mich runterzuregulieren, was aber nur bedingt klappte. Schreiben und Telefonieren mit einer lieben Freundin, Mandalas ausmalen, mich in die Ruhe meines Zimmers zurückziehen, für mich analysieren, welche alten Muster hinter diesen heftigen Gefühlen stecken könnten – all diese Dingen halfen, aber eben nur langsam. Meine Gefühle erschienen mir so mächtig, dass ich meinte, darin zu ertrinken. Es fühlte sich an wie totaler Kontrollverlust. Und ich hasse Kontrollverlust und Hilflosigkeitsgefühle …

Gerne hätte ich mit meiner Einzeltherapeutin gesprochen, aber sie war an diesem Tag nicht im Haus. Zu einem der anderen Mitarbeiter traute ich mich nicht, da ich sie noch nicht so gut kenne. Ich überlegte, ob ich mir mein Bedarfsmedikament holen sollte, aber auch das setzte etwas voraus, was mir noch schwer fällt: zur medizinischen Zentrale gehen und mein Anliegen erklären. Ich hatte Angst, mich vielleicht rechtfertigen zu müssen oder ein „Nein“ zu hören zu bekommen. Außerdem grübelte ich darüber, ob das nicht Vermeidungsverhalten wäre: ein Medikament nehmen und damit die unliebsamen Gefühle wegdrücken, wo ich doch lernen sollte, sie zuzulassen? Aber andererseits: Wäre es nicht vernünftig, die hohe innere Anspannung mit Hilfe des Medikaments zu beenden, um mich dadurch regenerieren und neue Kraft tanken zu können? (Grübelte sie mal wieder ohne klares Ergebnis.) Irgendwann schloss ich dann mit mir selbst den Deal, noch ein paar Stunden abzuwarten. Sollten Angst und Co. bis dahin nicht besser sein, wollte ich aller Angst zum Trotz zur MZ marschieren und mir Bedarf holen.

Aber das war gar nicht nötig, denn irgendwann war sie vorbei, die Emotionswelle. Was am Ende dazu beigetragen hat, kann ich gar nicht so wirklich sagen. Vielleicht konnte es erst besser werden, als ich aufgehört habe, mir selbst Druck zu machen?

Diese schrecklichen Gefühle sollen jetzt sofort aufhören!“

Oder lag es eher daran, dass ich aufgehört habe, zu katastrophisieren?

Ich halte diese Gefühle nicht aus! Es fühlt sich so an, als würde es niemals enden!“

An den verschiedenen Skills?

Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Heute schaffte ich es jedenfalls, meine Scham und mein Leistungsdenken sowie die ewige Vergleicherei zu überwinden:

Du solltest das inzwischen allein ohne Hilfe schaffen! Wenn du deine Therapeutin fragst, bist du schwach oder nervst sie!

Anderen hier geht es schlechter als dir, sie haben mehr Recht als du auf Hilfe als du!

Ich vertraute mich meiner Bezugstherapeutin über die gestrige Situation an und hatte ein gutes Gespräch mit ihr, das mir geholfen hat, die Situation besser zu verstehen und mir Handlungsmöglichkeiten für ähnliche Situationen in der Zukunft aufzuzeigen.

Plus: Nelia füllt jetztauf Anweisung hin eine Woche Anspannungsprotokolle aus und lernt das Skillen 😙

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7 Kommentare zu „Über’s vermeintliche Ertrinken

  1. Liebe Nelia,

    wie es ausschaut, hast Du die ersten Hürden ja schon gemeistert in der Klinik. Mir fehlt bislang jegliche Klinikerfahrung, aber ich schätze mal, den anderen geht es hin & wieder genauso wie Dir…

    Weiterhin alles Gute. Du packst das! *tschaka*

    Gruß aus der Himbeersplitterei

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    1. Hallo liebe Himbeere,

      ja, ich habe mich inzwischen definitiv schon mehr eingelebt. Das tut gut, denn es nimmt ein Stück Anspannung und Angst raus …
      Danke für die guten Wünsche und dir und den Himbeersplittern ein schönes, sonniges WE!
      Nelia

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  2. Gestern in einem Podcast…es gibt keinen Zustand der ewig anhält!
    So sehr du dich vorher im Lot fühltest, so sehr kann sich das ändern. Aber auch das schambehaftete und unschöne Gefühl, es geht wieder weg.
    Und während diesem Auf und Ab hast du sogar noch etwas über dich gelernt und nicht aufgegeben.
    Von Außen, aus meiner Perspektive, bist du schon so sehr über dich selbst hinaus gewachsen 😊 gute Nacht!!!

    Gefällt 2 Personen

    1. Liebe Pia,
      danke für deine motivierende Sichtweise. Wegen jahrelanger (schlechter) Angewohnheiten fällt es mir noch schwer, es so zu sehen, wie du beschreibst, aber ich arbeite daran und bemerke zwischendurch immer wieder mal kleine und größere Fortschritte.

      Liebe Grüße
      Nelia

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    1. Liebe Rosablüte,
      dieses Gedanken-Bild gefällt mir sehr … Meine erste Ärztin hat es damals auch benutzt. Zwar nicht in Bezug auf Gefühle, sondern auf Zwangsgedanken, aber es passt auch perfekt zu Emotionen. Während ich mich von Gedanken schon besser distanzieren kann, fällt mir das bei Gefühlen, gerade bei bestimmten unangenehmen, noch schwer. Ich versuche, es das nächste Mal so zu sehen, wie du beschrieben hast …
      Liebe Grüße
      Nelia

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      1. Liebe Nelia, das hab ich im Yoga gelernt (ich lerne so viel im Yoga, lach) das ist von einem Zitat von Thich Nhat Hahn glaube ich. Ja nichts hält ewig, die schlimmsten und die besten Zeiten gehen vorüber, wenn einem das bewusst wird, kann man mit solchen Momenten vielleicht besser umgehen. Ich weiß was du meinst, mir hängen Emotionen auch immer sehr nach. Wünsche dir noch viel Erfolg in der Therapie. Viele Grüße

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